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7,8 Prozent: Fürstenwalde (Spree)

Kiez KOM

Lesung am 14.09.2916

Ich wusste bis gestern nichts über Fürstenwalde, als dass es irgendwo hinter der östlichen Stadtgrenze von Berlin liegt. Auf dem Weg dorthin mit dem Regionalzug fahre ich an Erkner vorbei. Erkner kenne ich, vom Hörensagen und vom S-Bahn Netz Berlin. Es ist eine Endstation. Fürstenwalde liegt dahinter. Daran sieht man wieder, wie ignorant eingeborene Berliner sein können. Warum hätte ich früher jemals mein kuscheliges Stadtzentrum verlassen sollen, um das Umland zu erkunden? Dann halt jetzt.

Im Zug sitzt eine Gruppe zu gut gelaunter Frauen und bringt den Schaffner in Verlegenheit, als er die Fahrkarten kontrolliert. Die Anspielungen und Witze auf seine Kosten lässt er über sich ergehen. Im Vierersitz neben mir raunt ein Mann seiner Begleiterin zu: Wie im Kindergarten. Ich kombiniere: Fürstenwälderinnen sind offensichtlich nicht schüchtern und organisieren sich gerne in Gruppen. Ich google: »Fürstenwalde ist happy.« Die Stadt hat ein Imagevideo auf ihre Seite gestellt. Ich lese: Fürstenwalde ist eine »lebendige Stadt im Märkischen« mit Ritterfest, Dom, Kino, Wanderwegen und 33.000 Einwohnern. Es gibt auch eine ausführliche Statistik zur Altersverteilung und Beschäftigung auf der offiziellen Homepage der Stadt: 2.501 Arbeitslose Stand Juni 2016. Das ist allerdings etwas schön gerechnet, denn laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit vom Juli 2016 sind es noch 4.016, also eine Quote von 7.8 %. Das passt auch eher zur letzten Meldung der Märkischen Online Zeitung vom 02.03.2016 zur Arbeitslosigkeit. Die Verteilung auf die Altersgruppen dürfte in Fürstenwalde wohl im Bundesdurchschnitt liegen: »Etwa 25% der Arbeitslosen sind 55 Jahre und älter, 7,5 Prozent sind 15 bis 25 Jahre alt. Knapp die Hälfte der Arbeitslosen sind Langzeitarbeitslose.« Dennoch ist jetzt die Zeit der positiven Meldungen, wenn es um die Arbeitslosigkeit geht: »Arbeitslosigkeit sinkt auf niedrigsten Stand seit dem Mauerfall«, fasste der rbb für Berlin und Brandenburg am 30.06.2016 zusammen. Wahrscheinlich ist es auch gerade jetzt besonders wichtig, dass die Zahlen niedrig sind.

Am Bahnhof holt mich Anja Röhl ab. Anja Röhl und ich haben uns im Sommer 2015 in Klütz kennengelernt. Sie ist damals extra zu meiner Lesung gekommen. Heute ist sie die Initiatorin meiner Lesung. Anja Röhl organisiert Veranstaltungen für die Rosa Luxemburg Stiftung. Sie hat selbst so ein schwieriges ›Ich-Buch‹ geschrieben, in dem sie ihre Jugendzeit erzählt: In »Die Frau meines Vaters« geht es auch um Schichten, um materielle Armut, um Identitätsfindung und um Politik. Die zweite Frau von Anja Röhls Vater war Ulrike Meinhof. Und die war für Anja Röhl eine wichtige Bezugsperson. Ihre Ulrike Meinhof ist eine ganz andere als die, die man aus vielen anderen Quellen kennt. Mit ihrem Buch steht Anja Röhl für ihr Bild von ihrer umstrittenen und berüchtigten Stiefmutter ein und erzählt ihre eigene Geschichte. So unterschiedlich die Kontexte sind, in denen wir aufgewachsen sind, gibt es doch Parallelen, obwohl Anja Röhl zur Generation meiner Mutter gehört. Wir sprechen über den Generationenkonflikt. Wir und unsere Mütter, Anja Röhl und meine Mutter als Nachkriegsgeneration und deren Eltern. Kurzfassung: Wenn eine Generation versucht etwas komplett anders zu machen als die Generation davor, dann beeinflusst das die Generationen danach, meistens anders als geplant. Traditionslosigkeit, Selbstbewusstsein, Zugehörigkeit – irgendwie führen alle diese Themen uns wieder zurück zu unseren Eltern und deren Konflikten mit ihren Eltern.

Das fröhliche Stadtzentrum von Fürstenwalde werde ich heute nicht kennenlernen, denn wir fahren direkt ins Wohngebiet Nord. Eine Plattenbautenwohnsiedlung wie aus dem Bilderbuch. In den vorderen Reihen große Schilder: KiK und Aldi. Zwei Kinder spielen mit einem Fahrradreifen. An einer Wand ist ein weißes verblasstes Hakenkreuz sehen. Sonst sehe ich hier auf den ersten Blick nicht viel Graffiti. In der zweiten Häuserreihe prangt ein gelbes Schild über einem Eingang: Das Kiez KOM ist mein heutiger Veranstaltungsort. Das Kiez KOM ist Anwohnertreffpunkt und Beratungsstelle. Die einzige hier in der Nähe. Die Beratungsstelle der Caritas mit ausgebildeten Fachkräften ist in der Stadtmitte und völlig überlaufen, und laut Ankündigung auf der städtischen Homepage hat das Bürgerbüro seine Beratungszeiten verkürzt wegen krankheitsbedingter Personalausfälle.

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Vor dem Kiez KOM steht Frau Aslan, um uns zu begrüßen. Frau Aslan hält hier im Häuserblock die Stellung. Sie hat sich genug Erfahrung angeeignet. Sie kommt von hier. Eine echte Fürstenwalderin und »Ost-Mädchen«, wie sie sagt. Eine, die auch aus Resten und allem was sie zur Verfügung hat noch was Gutes rausholen kann. Rein materiell und im übertragenen Sinne. So wurde sie erzogen, sagt sie und »Das liegt mir im Blut«. Ihr Talent kann sie im Kiez KOM sehr gut einsetzen. Sich beklagen ist dagegen nicht ihrs. Sie selbst hat einmal hier im Kiez KOM übers Jobcenter als 1,50 Euro-Jobberin angefangen. Und ist dann nicht mehr gegangen. Mittlerweile führt sie das Kiez Kom. Mit der Unterstützung des Fürstenwalder Kulturverein e. V. als Träger, bietet sie hier jeden Tag vier Stunden lang Beratung an. Sie hat für jeden eine Tasse Tee, ein offenes Ohr, auch interkulturelle Kochabende mit Schulen werden hier veranstaltet. An den Wänden dokumentieren Fotos die Highlights aus den vergangenen Jahren. Auch Asylanten, Flüchtlinge und Migranten kommen hierher. Frau Aslan wünscht sich, dass hier im Wohngebiet ein Miteinander gelebt wird. Große Gruppen sind hier neben den Ur-Fürstenwaldern die Russischstämmigen und nun die neu hinzugekommenen Flüchtlinge. Beschäftigen tut sie sich täglich mit Aufgaben, die man der Sozialen Arbeit oder der Projektarbeit zuschreiben könnte. »Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht«, sagt sie. Frau Aslan überlegt gerade, ob sie nicht noch ein Fernstudium beginnen soll, denn viele Dinge, die sie gerade macht, bekommt sie nicht vergütet, da sie keinen Qualifikationsnachweis dafür hat.

Anja Röhr und Birgit Aslan
Anja Röhl und Birgit Aslan

Das Kiez KOM ist eine kleine Wohnung mit Zugang von außen, es gibt eine rechteckige Teeküche, Tische und Stühle. Improvisiert, aber einladend. »Es müsste noch eine ganze Menge gemacht werden«, sagt Frau Aslan. Neben dem Eingang stehen zwei Nähmaschinen. Hier bietet sie mit einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin Nähhilfe an. Wer Kenntnisse hat, aber keine Maschine, kann sie hier für einen Euro benutzen. »Für den Strom«, erklärt Frau Aslan. Materialien werden zum Selbstkostenpreis gestellt. Aus Spenden werden Stoffreste, Reisverschlüsse und Knöpfe recycelt.

Etwa 25 Sitzplätze gibt es hier. Manche Stühle sind handbemalt. Besetzt werden heute Abend etwa 12. Zumeist älteres Publikum. Die trauen sich vielleicht eher, diese Themen anzupacken? Immer wieder höre ich, dass Menschen zögern zu meiner Lesung zu kommen, weil sie befürchten, dass es unangenehm werden könnte. Vielen ist allein das Schlagwort ›Hartz-IV‹ schon unangenehm. Nach meinen Lesungen höre ich oft, dass sich meine Zuhörer ermutigt fühlen und froh sind dabei gewesen zu sein.

»Die sind sicher alle noch am See«, sagt Jemand. Ich lerne, dass Fürstenwalde viele schöne Seen mit guter Wasserqualität zur Auswahl hat: Trebuser See, großer und kleiner Kolpiner See, Scharmützelsee, Teegensee, Dehmsee und den Petersdorfer See. Letzteren hat ein Millionär gekauft und bietet dort Wasserski und Wakeboard-Kurse an. »Ob das sich trägt?« Frau Aslan war schon als Kind in diesem See baden. Damals gab es dort Enten und viele Vögel. Denen ist es dort jetzt zu laut. Die Preise beim Wasserski-Restaurant findet sie auch ganz schön happig für Ottonormalverbraucher.

Zuhörer im Kiez KOM
Zuhörer im Kiez KOM

Nach der Lesung reden wir eine Weile über Ermutigung und verschiedene Formen von Ermutigung. Ein Elternpaar berührt mich besonders mit ihrer Frage. Ich nehme an, sie gehören in gewisser Weise zur Gruppe der »Betroffenen« unter meinen Zuhörern, obwohl ich nicht sicher bin, ob sie sich so bezeichnen mögen. Es gibt Gründe, warum nicht beide erwerbstätig sein können. Das Paar hat vier Kinder und macht sich Sorgen, dass sie den Kindern nicht genug bieten können. Die Mutter erzählt, dass ihre Tochter von einer wohlhabenderen Freundin nach Hause kam und von deren vielen Ohrringen sprach. »Warum hat sie so viele?«, soll sie gefragt haben. »Ich habe nur zwei, das reicht doch.« Dennoch macht die Mutter sich Sorgen, wie sie am besten damit umgehen kann, dass ihre Tochter nun merkt, dass andere mehr haben als sie selbst. Sie kennt auch die Situation, im Restaurant stundenlang an einem Getränk zu klammern, weil man sich nicht mehr leisten kann und nicht auffallen will. Ich verstehe die Unsicherheit, nicht genug bieten zu können. Die Kinder zu enttäuschen, ein Elternthema. Genauso wie, dass Mütter nie wollen, dass ihre Kinder ihnen was Tolles oder Teures schenken und damit Kindern die Freude nehmen, den Müttern wirklich ein tolles Geschenk zu machen.

Was die beiden Eltern angeht, glaube ich, aber ich bin auf diesem Gebiet keine Fachkraft, dass es besser ist, Unterschiede anzusprechen und eine Strategie für den Umgang damit zu entwickeln, als Vertuschungsversuche zu unternehmen. Mir hätte das damals geholfen, um mir eine Meinung zu bilden, wer ich bin. Ich glaube nicht, dass diese Eltern sich zu schämen oder verstecken brauchen. Aber mir ist klar, dass man das Spannungsfeld, in dem sie sich befinden, nicht einfach mit einer Binsenweisheit auflösen kann. Es entsteht jedesmal neu. In jeder Situation, in der ihrem Kind Unterschiede bewusst werden, auf jedem Elternabend, wenn sie versuchen zwischen den anderen Eltern, die vielleicht finanziell besser gestellt sind, nicht aufzufallen. Sie müssen diese Unterschiede, vielleicht auch die Versuchung, sich zu vergleichen, immer neu ausbalancieren. Ich wünsche ihnen viel Kraft und Selbstbewusstsein auch in den Begegnungen. Nur dann wird die Ungleichheit weniger werden, wenn sich genau diese Eltern beteiligen, mitbestimmen, mitdiskutieren. Mit oder ohne Gucci-Täschchen und ob sie nun wissen, wie man Muscheln richtig aussaugt oder sich in gewissen Kreisen richtig zu Wort meldet, oder nicht. Egal.

Auf dem Weg zurück nach Berlin habe ich 37 Minuten Zeit, um über die Reaktionen meiner ZuhörerInnen nachzusinnen, bis die Lichter des Ostbahnhofs mich aus den Gedanken blinken. Es war nur eine Stippvisite, aber immerhin, Fürstenwalde ist nun ein Fleck auf meiner mentalen Landkarte.

Published inRückblicke

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