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0,8 Prozent: Kreis Günzburg, Bayrisch Schwaben

Lesung + Workshop am 05.10.17 am Kloster-Campus Wettenhausen

Die Arbeitslosenquote im SGB II in Landkreis Günzburg liegt bei 0,8 Prozent. Günzburg gehört zu Bayrisch Schwaben. In der Mitte liegt das Kloster Wettenhausen, im Kammeltal.

Klosteratmosphäre und das Papstzimmer

 

Gitter

Zum zweiten Mal stehe ich vor dem gusseisernen Gittertor mit den schwarzen Ranken und atme die Historizität des Gemäuers ein. Luft der Jahrhunderte: Wachsduft, Weihrauchreste, Gemäuer, Holz. Ich setze meine Füße in die Dellen der ausgetretenen Marmorstufen, die hinauf in den 1. Stock zum Veranstaltungssaal führen. Sie sind ausgetreten in Zweierreihen von den vielen Schwestern, die hier einmal eine Schule, ein Waisenhaus, ein Internat, eine Lehrerinnenbildungsanstalt führten. Ich glaube ihre verklungenen Schritte nachhallen zu hören.

11 Schwestern leben heute noch hier in einer für ihre Bedürfnisse überdimensionalen Anlage mit barockem Stuck, der wie Gewächse von der Decke hängt. Einige Schwestern sind hier schon zur Schule gegangen, sie waren lange mit dem Ort verbunden, bevor sie sich ihm ganz verschrieben haben. Heute ist das Kloster ein Denkmal, ein renovierungsbedürftiger Ort, ein lebendiger Ort. Ein magischer Ort? Vor lebendigen Orten muss man sich in Acht nehmen, sie können einen auf Gedanken bringen. „Du willst wiederkommen. Du willst meine Geheimnisse ergründen“, flüstert das Kloster mir zu.

Porträt von Sr. Aquinata Lauter, der ersten Priorin der Dominikanerinnen

Schwächer ist diese Stimme heute als damals, als das Kloster den Schwestern noch viel dringlichere Dinge zuraunte. Dieser Ort hat eine nicht ganz unwesentliche Rolle zu den gewichtigen Lebensentscheidungen der Schwestern beigetragen, ihr Leben in ihm zu verbringen. „Sie spüren die Geschichte und Gebete, die noch in den Räumen leben“, wird Schwester Amanda mir später bei einer Tasse Tee sagen. Es stimmt. Ich spüre „Es“. Ich will so schnell nicht wieder weg. Atmosphäre, Ästhetik, Geschichte, Ruhe, der Besucherin scheint das nicht zugängliche Alltagsleben der Schwestern geheimnisvoll. Wo gibt es noch so etwas, das man nicht touristisch erfahren kann? Das weckt Neugier, Sehnsucht und darüber legt sich behutsam wie ein Mantel die Schwere des zur Ruhe Kommens. „Hier kannst du nicht hetzen“, scheint das rund gerahmte Porträt der Nonne, die freundlich prüfend auf mich herabblickt, zu sagen.

Das Papstzimmer

Ich werde im Papstzimmer einquartiert, wie ein richtiger Ehrengast. „Der ist nur für besondere Gäste und Referenten“. Stuck und Reliefs des Papstes an den Wänden, dem das Zimmer gewidmet ist. Ein Vogel mit Papstmütze und einem Ring im Schnabel prangt über der Eingangstür. Eine Führung könnte über seine Symbolik Aufschluss geben. Über dem Tisch mit den Stühlen, die man sonst in Museen nur angucken darf, liegt eine Tischdecke, gefertigt in einer anderen Zeit.

Schüler des Gymnasiums und meine Co-Moderatoren. Foto: Annette Dyrnowski-Röschter

Ich folge dem langen Gang zurück zum Veranstaltungssaal. Das Besondere an dem Vortragsformat des Kloster-Campus ist, dass die Lesung von Schülern vorbereitet und moderiert wird. Dafür wurde es dieses Jahr im Rahmen des Petrus-Canisius-Preis des katholischen Schulwerks der Diözese Augsburg ausgezeichnet.   Drei Schülerinnen und Schüler des Sankt Thomas Gymnasiums haben bei den Vorbereitungen für das Pausenbuffet geholfen. Fünf Jugendliche sind meine Co-Moderatoren: Endlich mal wieder gute und frische Fragen. Nicht das Immerselbe, das Journalisten abfragen, als hätten sie sich alle abgesprochen. Schüler fragen anders.

Schreib-Workshop im St. Thomas Gymnasium Wettenhausen, Foto: Annette Dyrnowski-Röschter

Weil der Abend ja gerade mal zum Kennenlernen gereicht hat, verbringen die Schüler und ich den nächsten Freitagvormittag gemeinsam in einem Schreibworkshop zum Thema „Helden und Ideale“. Unsere Helden sind: eine bereits verstorbene weise Klosterschwester, Serienfiguren – unter anderem der Krimiautor Richard Castle, eine Chefärztin aus Emergency Room und Superheld Peter Parker und Lorelei Gilmore – oder Personen aus dem echten Leben der Schülerinnen und Schüler: alleinerziehende Eltern, Großeltern, ein Onkel, eine beste Freundin. Nach unserem Workshop kann ich entgegen so mancher Meldung behaupten, dass die Jugendlichen von heute noch Ideale haben. Diese liegen gar nicht so weit entfernt von den Idealen unserer Elterngenerationen. Wie sie im Alltag gelebt werden können und ob sie auch bei der Berufswahl eine Rolle spielen, das wäre natürlich noch mal einen Workshop wert.

»Liebe Schüler des St. Thomas Gymnasiums: Ganz herzlichen Dank für Euer Engagement, und dafür, dass ich Euch und Eure Freitagshelden kennenlernen durfte.«

Kurz vor der Mittagspause lerne ich im Lehrerzimmer noch etwas über Religionslehre. Nämlich, dass die Trennung zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht tiefer geht als die Trennung zwischen Religionsunterricht und Ethik. Ich dachte, glaubt man, wählt man Religionsunterricht, glaubt man nicht ,wählt man Ethik. Naiv wie ich bin, hatte ich gedacht, dass man die Unterschiede zwischen katholisch und evangelisch in zwei Doppelstunden abhandeln könnte in einem gemeinsamen Religionsunterricht. Aber es ist wohl anders. Jetzt scheint mir, es könnten sich alle Religionen und Weltansichten in einem Unterrichtsfach verbinden, aber es würde immer noch getrennt werden nach evangelischem und katholischen Religionsunterricht. Ist das noch zeitgemäß? Was lernen die da alles, frage ich mich als evangelisch-freikirchlich und recht bibelkundig aufgewachsene Berlinerin.

Abschied vom Kloster

Das Mittagessen mit den Schwestern im Refektorium ist eine besondere Erfahrung. Erst wenn nach der Suppe das Glöckchen erklingt, darf gesprochen werden. Ich habe mich informiert und will mich unbedingt an die Regeln halten, möchte Respekt zeigen. Schweigen ist doch sonst kein Problem für mich, denke ich, aber auf einmal kribbelt es. Mir ist mir jeder Löffel der leckeren Tomatensuppe überbewusst. Was, wenn ich mich verschlucke vor Anspannung? Läuten. Entspannung.

Später habe ich mich noch einmal mit Schwester Amanda zum Tee verabredet: „Warum denken wir Menschen immer, dass wir alles alleine schaffen müssen?“, frage ich sie. Wir reden über das Leben da draußen in der Welt mit seinen Mühen, mit ehrgeizigen Zielen, Individualismus. Manchmal müht man sich um so Vieles umsonst, Stress, Burnout, Einzelkämpfertum. Für mich geht es um den Einklang mit sich selbst, um Ehrlichkeit mit sich und den eigenen Motiven, und manchmal darum, den richtigen Moment zu erwischen, Mitstreiter zu finden. Das hat auch eine spirituelle Ebene. Manchmal widerspricht das Richtige der rational ausgeloteten besten Lösung. Manche sagen „Timing“. Schwester Amanda denkt kurz nach und antwortet mit Versen aus einem Psalm, die genau dies beschreiben:

Psalm 127, Verse 1+2

»Wenn der HERR nicht das Haus baut, dann ist alle Mühe der Bauleute umsonst. Wenn der HERR nicht die Stadt bewacht, dann wachen die Wächter vergeblich. Ihr steht frühmorgens auf und gönnt euch erst spät am Abend Ruhe, um das sauer verdiente Brot zu essen. Doch ohne Gottes Segen ist alles umsonst! Denen, die er liebt, gibt Gott alles Nötige im Schlaf!«

Das ist keine Aufforderung zur Faulheit. Man muss schon tun, was im eigenen Vermögen steht. Aber muss man immer von sich selbst erwarten, alles alleine leisten zu können? Timing, Karma, Universum, das Vertrauen in sich selbst, Gottvertrauen, unterm Strich wollen wir auf das Gleiche hinaus. Manche Dinge kann man mit noch so großer Anstrengung, auch mit TO DO Listen, Kalkulationen und Disziplin nicht erreichen, wenn nicht „irgendetwas“ dazu kommt. Gibt es so etwas wie Berufung? Und was ist meine? Diesen Gedanken möchte ich weiterdenken. Vielleicht bei meinem nächsten Besuch im Kloster?

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Published inRückblicke