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Gelbe Briefe

Erste Phase: Ohnmacht

Schon wieder liegt eine hellgelbe Karte in meinem Briefkasten. Nicht die für Päckchen, die andere, die mich wider Willen beordert zum Postschalter zu gehen, um ein Schriftstück abzuholen, dass ich gar nicht haben will. Einen gelben Brief per Postzustellungsurkunde. Ich muss etwas tun, das ich nicht tun will und das schwer in meinen Zeitplan zu integrieren ist, um etwas zu bekommen, was ich nicht haben will. Das ist schon der erste Zwang und nimmt mir mein Mitbestimmungsrecht. Von vornherein muss ich mich beugen. Kurz blitzt der Gedanke auf: Ich könnte den Brief ja einfach nicht abholen. Aber die Angst vor dem was folgen wird, treibt mich doch zum Postschalter. Letztes mal, wie schön, hat die Postbeamtin den Brief nicht mehr gefunden. Diesmal aber kommt er nach umständlichem Kramen zum Vorschein und ich muss ihn mitnehmen.

Der zweite Zwang: Ich muss den Brief in meiner Tasche mit nach Hause tragen, obwohl ich ihn am liebsten in den nächsten Mülleimer werfen möchte. Der Brief in meiner Tasche versteckt sich kichernd hinter dem Kalender und der Geldbörse.

Zweite Phase: Wut

Zuhause schweigt mein ungebetener Gast. Er muss nichts mehr sagen. Er weiß, dass ich ihn schnell öffnen muss, denn sonst laufen wertvolle Fristen ab.

Ich weiß noch nicht genau, was er mir bringt. »Ich bin nur der Bote«, säuselt er besänftigend und macht sich etwas blasser. Dennoch raschelt er immer noch mit der Arroganz des Mächtigeren, als ich ihn öffne und seine Forderung, die in Euro an mich gerichtet ist, schnell wieder zur Seite lege. Nicht umsonst heißt es Papierkrieg. Papierkrieg ist Nervenkrieg. Wie kann mich ein Stück Papier so unter Druck setzten? Den Kessel förmlich zum Vibrieren bringen. Wut kocht von 0 auf 100 in 10 Sekunden, stößt gegen den Deckel des Kessels und fällt zurück in mich auf fruchtbaren Boden. Wieso fühle ich mich so ohnmächtig? Es nutzt nichts, dass ich mir sage, da hat nur jemand seine Arbeit nach Vorschrift gemacht, der Brief ist kein Angriff auf meine Person.

Ich kann es mir so oft sagen, wie ich will, am Ende ist mein Bauch trotzdem davon überzeugt, dass da jemand saß, der mich für irgendetwas bestrafen will, obwohl ich unschuldig bin. Jemand will mich nervös machen und ist hinter mir her. Meine Wut richtet sich zielgenau gegen die Person, die den Brief auf mich zugeschnitten und in die Post beordert hat. Träfe ich diese Person – ich weiss ich nicht, ob ich mich zivilisiert verhalten würde. »Nimm das zurück, mach, dass das weg geht!« , würde ich vielleicht schreien und versuchen, sie am Kragen zu packen.

So fühlt es sich an, so hilflos, so ausgeliefert, so ungerecht. Aber die absendende Person würde sagen: »Sie waren nur eine Wiedervorlage, die ich abarbeiten musste. Ich habe damit weiter nichts zu tun. Ich habe nur die Aufgabe, zu prüfen, ob Sie zahlungsfähig sind. Sie haben jedoch dreimal nicht auf das Formular geantwortet. Also habe ich Ihnen einen gelben Brief geschickt. Das hätten Sie an meiner Stelle auch getan. Also was wollen Sie nun von mir?« Und das wäre richtig. Ich habe nicht geantwortet, bis die Briefe gelb wurden. Weil mir die Briefe schon vorher ungerecht vorkamen. Meine Antwort war immer: Bei mir gibt es noch nichts zu holen! Das habe ich durch Ignoranz der Briefe mitgeteilt. Dass man das nicht einfach versteht und mich in Ruhe lässt.

Dritte Phase: Erleichterung

Es geht gar nicht so sehr um die Summe und ob ich in der Lage bin, diese, in welchen Raten auch immer, zu bezahlen. Es geht um das Gefühl von Gewalt, gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe die im Brief angegebenen Paragraphen nachgeschlagen, in der Hoffnung, eine Antwort, eine Lücke, einen Beweis meiner Unschuld zu finden, aber vergeblich. Sie sind bestenfalls Verweise auf weitere Gesetzte, nicht der Link zu einem Nachschlagewerk, das mir die Forderung verständlich machen würde. Also brauche ich Hilfe. Die kostet wieder Geld. Ich hatte noch nie etwas mit einer Rechtsberatung oder mit Anwälten zu tun. Fremde Welten. Wieder stellt sich Nervosität ein. Wen soll ich fragen? Werde ich richtig beraten werden? Bezahle ich dann noch mehr oder bekomme ich vielleicht sogar Recht?

Solange ich diese Gedanken mit mir herumtrage, umschlingen sie meinen Kopf wie ein dunkles Tuch, das zu fest geknotet wurde. Eine Woche lang, zwei Wochen. Dann ringe ich mich durch und rufe die Nummer an, die mir jemand empfohlen hat. Nach dem Gespräch, in dem Moment, in dem ich den Hörer auflege, fällt das Sorgentuch von mir ab. Nächste Woche ist mein Beratungstermin. Dann werde ich endlich verstehen, welche Rechte ich in dieser Angelegenheit eigentlich habe und was ich tun muss. Ich bin nicht mehr hilflos ausgeliefert. Diese Erleichterung ist wert, was auch immer sie kosten wird. Auf einmal kann ich die ganze Angelegenheit wieder sachlich betrachten. Ein Brief ist ja schließlich nur aus Papier.

Published inGedanken über ...

Ein Kommentar

  1. Susanne

    Wenn wieder einmal ein gelber Brief kommt, weißt Du, dass Du Dich an mich wenden kannst!
    Susanne

    Ein gutes neues Jahr wünsche ich Dir!

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