Zum Inhalt springen

»Ich bin etwas wert«

Ein Gespräch über Willenskraft, Glück und Armut mit dem Tänzer und Choreographen Royston Maldoom

 

Royston Maldoom und Undine Zimmer
Royston Maldoom & Undine Zimmer

UZ: Mister Maldoom, Sie haben sich mit 22 dafür entschieden Tänzer zu werden. Das ist spät für eine klassische Tänzerkarriere. Woher wussten Sie, dass Sie es schaffen können?

Royston Maldoom: Ich bin wohl einfach davon ausgegangen, dass es reicht, wenn ich nur fleißig trainiere. So einfach war es dann nicht. Aber als ich meine Entscheidung getroffen hatte, war mir klar, dass ich so weit gehen würde, wie ich konnte.

UZ: Und wie weit sind Sie gekommen?

Es kommt darauf an, wie die anderen uns in der Gesellschaft wahrnehmen. Das absorbieren wir.

RM: Ich musste zuerst meine Grenzen kennenlernen. Auf Grund meines Alters, meines Körpers und meiner Größe und vieler anderer Dinge, lernte ich nicht so leicht, wie andere, die früher begonnen haben. Da ich viele unglaubliche Tanzfiguren nicht machen konnte, musste ich mich fragen, warum das nicht ging und was die Essenz des Tanzens ist. Diese Erfahrung wurde zu einem enormen Vorteil für meine Arbeit als Choreograph.

UZ: Sie haben in Hamburg Wochen lang mit Menschen trainiert, die Armutserfahrung in ihrem Leben gemacht haben und einen »Tanz zwischen den Welten« einstudiert. Was ist besonders an solchen Projekten?

RM: Die Meisten, mit denen ich arbeite, haben eine sehr geringe Erwartung an das, was sie erreichen können. Oft brauchen wir jemanden, der uns sagt: Du kannst das! Das hebt uns auf das nächste Level. Wenn ich zu Anfang eines Projekts also in einen Raum mit 30 bis 100 Leuten gehe, bin ich der einzige, der weiß, wozu sie tänzerisch fähig sind. Ich muss sie am ersten Tag schon mit dem Wissen behandeln, was sie in drei Wochen leisten werden. Denn wenn ich vorsichtig mit ihnen auf dem Level anfange, auf dem sie gerade sind, erschaffe ich ein Stück, das sich auf diesem Level bewegt. Dann werden sie zwei Wochen später sehr frustriert sein, weil sie merken, dass sie zu sehr viel mehr fähig gewesen wären.

Die Meisten, mit denen ich arbeite, haben eine sehr geringe Erwartung an das, was sie erreichen können.

UZ: Wie können Menschen diese Erfahrung aus dem Tanzworkshop in ihrem täglichem Leben nutzen?

RM: Wer keinen Glauben an sich selbst hat, wird auch niemanden von sich überzeugen. Ich sage immer, wohin du auch gehst, geh mit dem Gedanken: Ich bin etwas wert, ich habe eine Idee, ich brauche diese Arbeit. Die Menschen werden dich anders wahrnehmen. Man muss nicht arrogant sein, man muss nicht aufdringlich sein, aber man muss seinen Wert kennen.

UZ: auch wenn einem jeder das Gegenteil erzählt?

Meine Entschlossenheit hat die andern überzeugt. Ich habe nicht aufgegeben, nur weil ich keine Unterkunft hatte.

RM: Das ist oft der Grund warum Menschen denken, dass sie nichts wert sind. Das ist eine Folge der Armutserfahrung. Was hat es mit der Armut auf sich? Wir haben alle von Menschen gehört, nach dem Krieg zum Beispiel, die wenig hatten. Aber ihr Selbstbewusstsein war nicht durch die Armut erniedrigt. Man war stolz darauf, zur Arbeiterklasse zu gehören oder zur den Landwirten oder wozu auch immer. Es kommt darauf an, wie die anderen uns in der Gesellschaft wahrnehmen. Das absorbieren wir.

UZ: Kann also Tanzen Armut und Arbeitslosigkeit beeinflussen?

RM: Was ist Armut? Armut ist ein Problem, aber oft geht es bei relativer Armut nicht um das Hungern. Es kann sein, aber meistens geht es um die Auswirkungen der Armut auf die Psyche. Es geht darum, wie die Gesellschaft dich behandelt. Die Menschen spüren das, sie sind dabei sensibel wie Kinder: Ein Kind wächst auf, abhängig von dem Gefühl, wie es selbst wahrgenommen wird. Wenn die Eltern denken, ihr Kind ist zu allem Möglichen fähig, wird das Kind sich viel zutrauen. Wenn das Kind immer wieder gespiegelt bekommt, dass es keinen Wert hat, dann wird es dies verinnerlichen. Man kann Menschen nicht versprechen, sie aus der Armut herauszuholen, aber man kann sich viele Gedanken darüber machen, wie man die Menschen von den Auswirkungen der Armut befreien kann.

UZ: Wenn jemand seine Situation verändern möchte, was ist dann am wichtigsten: Talent, Disziplin, Routine, Hingabe, Spaß an der Sache oder Sehnsucht nach etwas?

RM: Sehnsucht. Das Verlangen etwas zu tun, ist das Wichtigste. Die Welt ist voll von talentierten Menschen, die nichts getan haben. Und die Welt ist voll von weniger talentierten Menschen, die sie verändert haben. Wenn ich etwas Besonderes sehe, dann sehe ich nicht Talent, ich sehe das Verlangen etwas zu tun.

UZ: Was ist mit Disziplin?

RM: Disziplin ist unverzichtbar. Man kann im Leben nichts ohne Disziplin erreichen. Das gilt nicht nur für die Künste, die eine enorme Disziplin fordern. Besonders der Tanz: Tag für Tag musst du deine Übungen machen, du wirst ein Sklave deines Körpers. Du arbeitest stundenlang. Du brauchst Disziplin, um den Punkt zu erreichen, an dem du sein möchtest und du brauchst Disziplin um ihn zu halten. Die gleiche Art von Disziplin brauche ich, wenn ich mich auf eine Stelle bewerbe.

UZ: Wenn jemand zu Ihnen kommt und sagt: Ich kann nicht. Was antworten Sie ihm?

RM: Das ist sehr schwierig. Es gibt immer fremdbestimmte Grenzen für das, was möglich ist. Es wäre sehr arrogant jemandem in dieser Situation zu sagen, dass er erreichen muss, was ich mit sehr viel mehr Unterstützung erreichen durfte. Was man darauf antworten muss, ist Folgendes: Wenn es das ist, was du willst, dann musst du dir dein Ziel vor Augen halten und es verfolgen, so weit wie du kannst. Das Wichtigste ist: Stell dir die Hindernisse nicht zu früh vor und jammere nicht darüber, wenn du kein Geld hast. Sorgen machen musst du dir nur, wenn du keine Vision hast.

Stell dir die Hindernisse nicht zu früh vor und jammere nicht darüber, wenn du kein Geld hast. Sorgen machen musst du dir nur, wenn du keine Vision hast.

UZ: Sie sprechen aus Erfahrung?

RM: Ich hatte kein Geld, als ich anfing zu Tanzen. Aber jede Ballettschule will bezahlt werden. Ich musste irgendwo bleiben. Also habe ich für eine ganze Weile auf der Straße gelebt. Ich habe in den öffentlichen Toiletten Londons geschlafen, neben den Drogensüchtigen. Jeden Tag um 10 Uhr war ich beim Ballettunterricht. Das war das Wichtigste. Als sie mich in der Schule gefragt haben: Kannst du bezahlen? Da habe ich gesagt: Nein, aber Sie müssen mich nehmen. Ich mache alles, ich streiche Ihr Haus, ich pflege den Garten oder mache Erledigungen, aber Sie müssen mich nehmen, denn mein Platz ist hier. Darauf sind sie eingegangen. Ich habe für keine Ballettstunde bezahlt. Meine Entschlossenheit hat die andern überzeugt. Ich habe nicht aufgegeben, nur weil ich keine Unterkunft hatte.

UZ: Kennen Sie überhaupt das Gefühl, dass Sie keine Kraft mehr haben weiterzumachen?

RM: Ich habe dieses Gefühl jeden Morgen wenn ich aufwache. Und es ist jedes Mal das Gleiche wenn ich zu einem Angebot Ja sage. Auch bei diesem hier in Hamburg. Wenn es kommt, denke ich, ich will nicht, ich will nicht, ich habe genug.

UZ: Und was machen Sie dann?

RM: Weitermachen.

Royston Maldoom tries to teach me how to dance

Der britische Choreograf Royston Maldoom, geboren 1943, ist Mitbegründer der Community-Dance-Bewegung. Er leitet seit über 30 Jahren weltweit Tanzprojekte für jedermann, unabhängig von Talent und Erfahrung, Alter, Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft. Für sein soziales Engagement und seine künstlerische Arbeit hat er zahlreiche Preise erhalten. In Deutschland ist er vor allem durch den Kinofilm Rhythm is it! (2004) bekannt.

Ich habe ihn am 7. Mai 2015 in Hamburg getroffen, kurz vor der Vorführung des Tanzprojekts »Zwischen den Welten«. Dem Abend ging ein Workshop mit 30 von Armut-Betroffenen in Kooperation mit DER PARITÄTische Hamburg voraus.