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Anleitung zum Überleben in einem Land, in dem dich 20% nicht haben möchten:

Original von Jonas Hassen Khemiri

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  1. Erwache am Montag Morgen und rede dir ein, dass das Wahlergebnis eine gute Überraschung ist. Feiere, dass die Nationalisten keine 100% der Stimmen bekommen haben. Im Morgenfernsehen sagen die populistischen Politiker, dass das hier erst der Anfang ist, der Kampf geht weiter, wir geben nicht auf, nicht bevor jede Grenze eine Mauer ist, nicht bevor alle Bürger sich daran erinnern, wer dieses Land aufgebaut hat. Kriminelle sollen abgeschoben werden, die Flagge muss respektiert werden, Armut muss ausgerottet werden, mit mehr Polizei, härteren Strafen und Wasserwerfern. Wer unseren Regeln nicht folgt, hat hier nichts zu suchen. Wer ist das? fragt dein Sechsjähriger. Niemand, sagst du und machst den Fernseher aus. Ist er ein Bösewicht?, fragt dein Dreijähriger. Er ist Politiker, sagt du, und stellst das Frühstück auf den Tisch. Erklärst deinen Kindern, dass alles genauso bleibt wie sonst. Diese Wahl verändert nichts. Ihr werdet hier bleiben. Ihr geht nirgendwohin. Denk nicht dran, dass jede fünfte Person, die du triffst, im Aufzug, im Bus, im Supermarkt, findet, dass du etwas falsch machst, weil du hier rumläufst und existierst.
  2. Nutze den Dienstag, um deine Erfahrungen in diesem Land zu vergessen. Lösche alle die Male, wenn ein Polizist dich gebeten hat, dich auszuweisen. Vergiss alle Gelegenheiten, in denen jemand behauptet die Religion deiner Eltern sei das Tor zum Bösen. Am Dienstagabend fährt dich ein Kumpel nach dem Basketballtraining nach Hause, ein Polizeiauto blinkt blau und signalisiert euch am Wegesrand zu halten. Dein Kumpel zeigt seinen Führerschein und der Polizist guckt ein bisschen zu lange drauf und als er endlich fertig ist, ist dein Kumpel derjenige der dem Wachtmann einen schönen Abend wünscht. Als ihr Gas gebt, sagt dein Kumpel, dass er nun viel seltener angehalten wird, seit dem er sich auf die Adresse seiner Freundin umgemeldet hat, da sie in einem Viertel wohnt, wo die Wohnungen teurer sind und das durchschnittliche Lebensalter höher ist. Aber der Unterschied zwischen der Lebenserwartung im Viertel des Kumpels und dem seiner Freundin ist nicht so groß. Nur 18 Jahre. Sprich mir nach: Achtzehn Jahre, das ist nichts. Alle Menschen sind gleich viel wert. Es ist reiner Zufall, dass manche Morde Titelgeschichten werden und andere Notizen. Die Morde an Madeleine, Fredrik und Ulla und Carl und Kristoffer werden Titelgeschichten. Die Morde an Thanh und Rawan und Uma und Mohamed und Parham werden Notizen. Zufall. Reiner Zufall.
  3. Widme dich am Mittwoch dem nicht Erfüllen ihrer Vorurteile. Verdiene die besten Noten. Lerne den Duden auswendig. Studiere ein überzeugendes Lächeln ein,  das du jeden Tag aufsetzten kannst, wenn jemand die Aussprache deines Namens misshandelt, oder deinen Namen falsch buchstabiert, oder dich fragt, was dein Name eigentlich bedeutet. Rechne nicht nach, wieviele in deiner Bekanntschaft hierher gekommen sind und eine ganz neue Sprache gelernt haben, und die trotzdem keine Stelle bekommen, wegen einem Akzent oder einem falsch konjugierten Adjektiv. Sitz ganz still im Restaurant, wenn deine alten Freude sagen, dass sie aufgeschlossen sind, aber Fakten sind Fakten und man muss sich ja daran erinnern, wer dieses Land zu dem gemacht hat, was es heute ist. Einer sagt, dass am Wochenende drei Somalier in einem Schwimmbad waren, die … Jemand anders erzählt von zwei rumänischen Bettlern, die … Protestiere nicht, wenn deine Freunde sagen, dass du anders bist. Du bist ja nicht wie die, das ist nicht deine Schuld, dass es jetzt so ist. Die Politiker sind Schuld, EU ist Schuld. Sogar ein Kind versteht ja, dass offene Grenzen nur im Chaos enden können. Mach eine Faust in der Tasche. Lächle und sag: Ihr habt Recht. 
  4. Am Donnerstag schlägst du Kapital aus deiner Herkunft. Du machst in einem Musikvideo mit, in der Anzeige steht, dass der Künstler „ethnische“ Background Tänzer sucht. Schreib Bücher und Stücke, in denen Menschen, die so aussehen wie du, romantisiert werden und mit unendlicher Geduld ausgestattet werden. Sie werden nie sauer, weil du nie sauer wirst. Stell dich auf eine Stand-Up Bühne und mach Witze über deine Herkunft, mach dich über Mamas Akzent lustig und Papas Rückenhaare, deine kriminellen Brüder, das dicke Make-up deiner Schwester und die Religion deiner Oma. Fahr auf städtische Vielfalts-Konferenzen und mach genau die gleichen Witze, aber ohne Schimpfwörter. Stelle einen Auftritt in Rechnung plus Umsatzsteuer. Fahr nachhause zu deinen Kindern. Sprich nicht darüber, dass du noch einen Tag lang Geld verdient hast, indem du dich mit der Macht verbündest. Gib niemals zu, außer vor dir selbst, dass du die Unterdrückungsmaschinerie ölst, anstatt sie zu zerstören, was du dachtest es sei Revolte, ist in Wahrheit eher Massage. 
  5. Am Freitag liegt der Fokus auf intensivem Selbsthass. Verinnerliche ihre Stimmen. Schau dich selbst im Spiegel an und denke schlecht über dein Haar, deine Nase, deine Hautfarbe, deinen Ehrgeiz, deinen Erfolg. Besonders wichtig ist, dass du deine Selbstverachtung deinen Kindern zeigst, damit sie auch von den gleichen Gedanken angesteckt werden. Geh durch die Stadt und denke, dass die Nationalisten recht haben, die behaupten, dass eine andere Welt unmöglich ist. Der einzige Weg nach vorne ist rückwärts. Denk nicht eine Sekunde daran, dass es absurd ist, dass wir in einer Zeit leben, in der Geld, Boote, Autos, Schulden, Äpfel, Nasenhaartrimmer, Mobiltelefone Grenzen passieren können, aber Menschen nicht. 
  6. Am Samstag passiert etwas komisches. Du bist auf dem Weg zum Supermarkt mit deinen Kindern, der Dreijährige will alleine gehen und der Sechsjährige nur auf den weißen Strichen, also dauert es ein paar Sekunden länger die Straße zu überqueren. Ein Auto wartet, hinter dem Lenkrad sitzt ein älterer Mann. Er hupt. Und verdammt noch mal du rastest aus. Du springst auf die Motorhaube und schreist: WARUM SPRICHT DENN NIEMAND DARÜBER WER DIESES LAND AUFGEBAUT HAT?! Unsere Eltern wurden angekarrt aus der Türkei, um eure Lastautos zu bauen, sie ließen ihre Karrieren als Soziologen in Chile zurück, um eure Böden zu abzuschleifen, sie kamen von Polen, damit ihr die Preise für eure Badezimmerrenovierung senken konntet, sie sind vor eurem Krieg im Irak geflohen, um 18 Stundenschichten in euren Tabakläden zu stehen, sie haben regimekritische Texte in Eritrea veröffentlicht, sie waren Automechaniker im Sudan, sie waren Landvermesser in Indonesien, sie waren Friseure in der Ukraine, sie waren Krankenschwestern in Kurdistan, sie waren Poeten im Iran, sie waren Revolutionäre in Uruguay, sie waren Bartender in Tunesien, sie haben alles verlassen, um eure Taxis zu fahren, sich um eure Großmütter zu kümmern, eure Fenster zu putzen, sie haben ihre Rücken kaputt gemacht, Diabetes bekommen, Depressionen bekommen und nun habt ihr die Nerven, sie … (Du schaffst nur einen Bruchteil dessen zu sagen, bevor du von der Motorhaube gezogen wirst von zwei vorbeigehen Wachmännern (aber du hast immerhin geschafft die Frontscheibe einzutreten und die Scheibenwischer abzubrechen (und gerade bevor die Wachmänner dich auf den Boden zwingen, siehst du die Gesichter deiner Kinder (und die sehen ängstlich aus (aber auch stolz))))).
  7. Am Sonntag packst du eure Taschen und ihr macht euch bereit auszuwandern. Ihr könnt hier nicht länger bleiben, dieses Land ist von bösen Kräften besetzt und den Kindern zu Liebe ist es besser abzuhauen. Bevor es zu spät ist. Erst am Flugplatz erkennst du deinen Fehler. Denn deine Kinder wollen nirgendwo anders hin. Sie haben kein anderes Zuhause. Du hast kein anderes Zuhause. Ihr fahrt nach Hause und bereitet euch auf eine neue Woche vor.

Von: Jonas Hassen Khemiri, veröffentlicht in Dagens Nyheter am 24.05.19.

auf die Schnelle übersetzt von Undine Zimmer

PS: Aktuell neigen 21% der Deutschen laut Die Welt vom 25.04.19 zu rechtspopulistischen Meinungen.

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