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»Besonders belastete Eltern«

Ein Leben mit Herausforderungen von Anfang an. Ein Plädoyer für eine besondere Zielgruppe.

 

Immer wieder prallen in der öffentlichen Debatte die Meinungen gegeneinander: Ist relative Armut eine Erfindung der Sozial-Verbände? Oder wird in Deutschland tatsächlich jemand sozial benachteiligt?

Gespräch vom 07.12.2015 mit Wencke Thiemann, Teamleiterin der ELTERN-AG, und Gründer Meinrad Armbruster.

Undine Zimmer: ›Sozial benachteiligte‹ Eltern, gibt es die in Deutschland wirklich, oder sind die nur zu faul?
Wencke Thiemann: Besonders belastete Eltern haben einen Mangel an Entscheidungsmöglichkeiten. Wenn ich als Mutter entscheide, dass mein Kind dies oder jenes aus Gründen der Förderung braucht, aus denselben Gründen aber auf etwas anderes verzichten lernen soll, ist das immer noch meine bewusste Entscheidung als Mutter. Wenn ich jedoch nicht entscheiden kann, sondern von vornherein keine Wahl habe, aufgrund fehlender Ressourcen, dann ist das kein Ausdruck von Faulheit, sondern bedeutet ein Leben in ständigem Mangel.

UZ: Wer sind diese ›Problemeltern‹, wie sie gerne etikettiert werden, genau?
WT: Die ELTERN-AG richtet sich an eine spezielle Zielgruppe von Eltern mit beispielsweise niedrigem Bildungsstatus, niedrigem Schulabschluss (i. d. R. Hauptschulabschluss oder kein Schulabschluss), an Menschen mit Suchterkrankungen. Das sind Zielgruppen, denen man in der Gesellschaft häufig mit wenig Wohlwollen begegnet.

UZ: In welcher Weise sind diese Eltern besonders belastet?
Meinrad Armbruster: Das sind Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihre Arbeit verloren haben und nicht wieder in Arbeit reinkommen. Meistens verbergen sich dahinter wirklich Schicksale. Als wir angefangen haben, so um das Jahr 2000, gab es noch viele Wendeverlierer. Die hatten vorher zum Teil sichere Berufe und Existenzen und kamen mit dieser neuen Gesellschaft, mit dieser Eigenverantwortung, nicht mehr zurecht. Manche sind dann Blütenträumen gefolgt und haben sich hoch verschuldet. Andere waren psychisch in schwierigen Situationen. Da überhaupt wieder raus zukommen ist ein hartes Stück Arbeit. Wenn man andere Langzeitarbeitslose betrachtet, haben viele keinen Schulabschluss.
Dann gibt es zum Beispiel frühe Elternschaft. Das passiert halt. Und wenn junge Menschen dann mit 16, 17 oder 18 entscheiden ihr Kind zu haben, ist das aller Ehren wert. Aber sie haben es natürlich arg schwierig. Wieder andere haben chronische Erschwernisse, wie zum Beispiel Krankheiten und depressive Erkrankungen, die unter Umständen entstehen, wenn man seinen eigenen Wert nicht immer wieder durch andere widergespiegelt bekommt. Weitere Risiken sind Migrationshintergrund oder Alleinerziehenden-Status. Letzterer ist ein absolutes Armutsrisiko. Unsere Eltern tragen in der Regel 2-3 dieser Risiken.

›Langzeitarbeitslosigkeit‹ … ›frühe Elternschaft‹ … ›chronische Erschwernisse‹ … ›Krankheiten und depressive Erkrankungen‹ … ›Migrationshintergrund‹ … ›Alleinerziehenden-Status‹

»Unsere Eltern tragen in der Regel 2-3 dieser Risiken.«

UZ: Woher kommt Ihrer Meinung nach der Eindruck: »Die wollen ja gar nicht«?
MA: Niedrige Bildung korreliert häufig damit, dass man in den untersten und prekärsten Arbeitsverhältnissen steht, wo man auch am schnellsten wieder entlassen wird. Was wir auch mit unseren Eltern häufig erleben, ist, dass eine Mentalität entsteht: Uns will hier keiner in dieser Gesellschaft und bitteschön, wenn die uns nicht wollen, dann wollen wir die auch nicht. Eine Mentalität, die ganz bewusst der Gesellschaft den Rücken kehrt und von sich aus sagt: »Gut wir sind Hartzer, unsere Kinder werden Hartzer und die Gesellschaft hat eine verdammte Pflicht für uns zu sorgen!« Da wird dann auch schon mal ausgeschlossen, dass man einer geregelten Arbeit nachgeht. Wir halten das natürlich mit Blick auf die Kinder für absolut katastrophal, weil den Kindern durch diese Haltung ganz viele Lebensmöglichkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten verschlossen bleiben.

UZ: Was bietet diesen Eltern dann die ELTERN-AG?
WT: Häufig wissen unsere Eltern nicht, wie sie sich oder ihre Kinder fördern können. Wie oft höre ich in der ELTERN-AG: »Ich würde meinen Kindern das gerne ermöglichen oder es fördern, aber es geht nicht.« Und es geht auch wirklich nicht. Viele Eltern können nicht richtig schreiben, nicht richtig lesen. Aber sie wollen immer das Beste für ihr Kind und geben sehr viel dafür. Hier setzt die ELTERN-AG an. Und den Kursen werden Erziehungsfragen und Herausforderungen bearbeitet und gemeinsam Mittel und Wege gesucht, um diese mit vorhandenen Ressourcen alltagsnah und niedrigschwellig zu realisieren.

UZ: Warum interessiert sich die Eltern-AG gerade für diese Eltern?
MA: Als wir vor 15 Jahren gestartet sind, war gerade die Pisa-Studie erschienen und stellte fest, dass sich soziale Ungleichheit von einer Generation in die nächste fortsetzt. Wenn ich in einem armen Elternhaus geboren bin, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich auch als Erwachsener arm sein werde und es im Leben zu nicht viel Bildung und materiellem Wohlstand bringen werde. Wir haben uns damit beschäftigt und sind immer wieder auf das Elternhaus gekommen. Soziale Benachteiligung ist untrennbar mit den Eltern und mit dem Status verbunden. Aber Programme für die Arbeit mit den Eltern, bei denen die Kinder nachgewiesenermaßen den größten Teil ihrer Zeit verbringen und wo der Einfluss am größten ist, gab es in dem Sinne nicht.

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