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Europa in der Krise

Junge Europäer und wachsende soziale Ungleichheit: Ein Gespräch über das Fotoprojekt »Sea Change – Ein neues Europa« mit seinem künstlerischen Leiter Harald Birkevold

 

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Zwei Jahre lang haben 13 führende europäische Fotografen diese Generation in ihren Heimatländern auf mehr als 2500 Bildern festgehalten. Was nun in etwa 80 ausgewählten Fotografien in der Ausstellung »Sea Change – Ein neues Europa« gezeigt wird, ist das Leben dieser jungen Europäer.

Wie werden diese Menschen beeinflusst von der fortwährenden ökonomischen Krise? Was sehen wir wirklich auf diesen Bildern? Dies sind die Ausgangsfragen des dokumentarischen Fotoprojekts Sea Change. Zum ersten Mal wurde die Ausstellung im Januar 2015 im Literaturhaus Oslo, Norwegen, gezeigt. Seitdem ist sie auf Tour.

Beim Betrachten dieser Bilder sehe ich einer Generation in die Augen, die sich nichts mehr vormachen lässt. Die gleichzeitig abgebrüht und ziellos, verletzlich ihren Weg in der modernen Welt sucht. Immer verbindende Elemente: Gemeinschaften, Parties oft mit Techno als Ausdruck des Lebenswillens, Natur. Es ist eine Generation im Jetzt. Die Zukunft bietet unzählige Alternativen oder keine. Alles oder nichts. Berufe als Berufung kommen hier nicht vor. Eher zeichnet sich eine Suche nach Zugehörigkeit ab. Dazwischen Romantik. Manchmal Entschlossenheit. Wie in dem Bild mit dem Clown.

Ich habe mich mit dem Journalisten und Leiter des Fotoprojekts Harald Birkevold (außerdem Journalist der norwegischen Tageszeitung Stavanger Aftenblad) unterhalten, als wir uns dieses Jahr im September zum zweiten Mal begegnet sind, auf dem Literaturfestival Kapittel in Stavanger. Ich hatte hier die Gelegenheit im Kontext von Sea Change, aus meinem Buch zu lesen.

Da man sich in den skandinavischen Ländern duzt, haben wir das Du auch im Interview beibehalten.

UZ: Harald, wofür steht der Titel »Sea Change«?

Harald Birkevold: Der Name Sea Change geht zurück auf William Shakespeare. In seinem Stück »Der Sturm« findet man diesen Ausdruck in einem Gedicht über einen Ertrunkenen.

»Full fathom five thy father lies
Of is bones are coral made
Those are pearls that were his eyes
Nothing of him that doth fade
But doth suffer a sea change
Into something rich and strange.«

»Fünf Faden tief dein Vater ligt,
Sein Gebein ward zu Corallen,
Zu Perlen seine Augen-Ballen,
Und vom Moder unbesiegt,
Wandelt durch der Nymphen Macht
Sich jeder Theil von ihm und glänzt in fremder Pracht.«

Auszug aus: William Shakespeare. »Der Sturm (Projekt Gutenberg)

Heute ist »sea change« zu einer feststehenden Wendung geworden. Es steht für eine Transformation, eine grundlegende Veränderung. Wir dachten, das passt zum Veränderungsprozess, in dem sich Europa befindet. Außerdem ist es ein Wortspiel: »sea change« und »see change«.

UZ: In der Ausstellung befindet sich ein Bild des Fotografen Fabian Weiss, das mich beschäftigt hat. Es zeigt einen Clown, der mitten in einem Feld steht. Was hat es mit diesem Clown auf sich?

Close to Jüchen, North Rhine-Westphalia. A Clandestine Insurgent Rebel Clown at a demonstration against the extension of the coal mine 'Garzweiler' near Cologne. The program includes the resettlement of several small towns. German youth has been very active in the environmentalist movement since its very beginning and there are several radical groups blocking baggers and stopping nuclear transports. Others are jumping onto the train and just enjoying the temporary disobedience.
Copyright by Fabian Weiss: Close to Jüchen, North Rhine-Westphalia. A Clandestine Insurgent Rebel Clown at a demonstration against the extension of the coal mine ‚Garzweiler‘ near Cologne.

HB: Der Clown ist ein Aktivist. Er benutzt sein Kostüm, um Gewalt zwischen der Polizei und Demonstranten zu verhindern. Er stellt sich einfach zwischen die beiden Gruppen und das Problem ist gelöst. Denn niemand schlägt einen Clown, nicht wahr?

UZ: In Begleitung zur Ausstellung bietet Ihr, also Du und der fotografische Leiter Jocelyn Bain Hogg, auch Photoworkshops an. Was passiert in diesen Workshops?

HB: Unser Wunsch ist es, in jeder Stadt Workshops mit jungen Leuten in der Zielgruppe von 16-26 Jahren zu veranstalten. Der Zweck dieser Workshops ist es, eine Verbindung zur Zielgruppe aufzubauen und ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, mit erfahrenen Dokumentar-Fotografen zu arbeiten. Das sind zwei intensive Tage. Wir wählen dann aus den Bildern, die während dieser Tage entstanden sind aus und präsentieren sie in einem Buch. Das wird von unserem Designer Mark Watkins zusammengestellt. Im Grunde machen unsere Teilnehmer also eine lokale Sea Change Dokumentation in nur zwei Tagen. Es macht Spaß und ist sehr interessant.

UZ: Was lernen die TeilnehmerInnen in diesen zwei Tagen?

HB: Junge Leute haben heutzutage ein so umfangreiches Wissen über Bilder und Bildsprache. Aber was macht ein gutes Bild aus im Zeitalter des Selfie? Wir haben deswegen nur eine Regel für die Workshops: Keine Selfies! Wir geben Themen vor, zum Beispiel: Wie gehe ich auf Fremde zu, die ich fotografieren will, wie rahme und selektiere ich. Und wir ermutigen, viele Bilder zu machen. Die meisten Amateure schießen viel zu wenig Bilder.

UZ: Was für eine Ausrüstung benötige ich, um an Euren Workshops teilzunehmen?

HB: Alles was greifbar ist: von Smartphones über Kompaktkameras bis zu Spiegelreflexkameras. Die Jugendlichen arbeiten alleine oder in Gruppen. Sie bekommen zwar Aufträge bevor sie auf Motivsuche gehen, wie »Ein Tag in meinem Leben«, »Meine Familie«, »Menschen im Bus«,aber die Bilder nehmen sie ohne professionelle Hilfe auf.

UZ: Wie geht es mit der Ausstellung weiter?

HB: Nächste Station ist Wien, danach stehen Salzburg, Malta, Portugal, Island, Litauen und weitere auf dem Programm. Bisher sind wir in ganz Europa bis hinein ins Jahr 2017 gebucht.

UZ: Wenn ich Sea Change auch in meine Stadt einladen möchte, was muss ich dann machen?

HB: Wir fügen sehr gerne weitere Aussteller hinzu:

1. Finde heraus. ob es einen Ausstellungsort gibt, der Platz für etwa 80 Bilder bietet (Wir sind flexibel, wenn es keinen Platz gibt, können wir alternativ eine Slideshow anbieten)

2. Finde heraus, ob es ein Budget für einen Workshop gibt (es geht auch ohne, aber wir würden die Bilder wirklich gerne in Verbindung mit einem Workshop zeigen)

3. Wir sind nicht besonders teuer, aber ein bis zwei Lehrer benötigen Fahrtkosten, einen Ort zum Übernachten und ein kleines Honorar (etwa 300 EUR für zwei Tage, verhandelbar).

4. Gibt es einen Foto-Kurs in einer Schule in der Nähe oder eine andere potentielle Gruppe an Workshop-Teilnehmern?

5. Schick uns eine Mail unter www.projectseachange.com oder an post@litteraturhuset.no. Wir waren im März 2015 im Literarischen Colloquium Berlin zu sehen und würden sehr gerne noch einmal nach Deutschland kommen.

Mehr zu Sea Change unter www.projectseachange.com oder unter facebook.com/projectseachange