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15.03.2019 Performance im Anschluss an „Ray and Liz“ im Pontio, Bangor

15.03.2019 Performance im Anschluss an „Ray and Liz“ im Pontio, Bangor

Extract  from the book „Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV Familie“

You will find the german version beneath.

You will find the welsh version here.

You’ll find the englisch version here.

 

Die Armut der Möglichkeiten

Armut in unserer Gesellschaft ist wenn man keine Möglichkeiten hat oder für sich keine Möglichkeiten sieht eine Lebenssituation zu aktiv zu verändern. Meine Mutter sagt „Wenn ich mich nicht verwirklichen können materiell und immateriell.“ Ich füge noch hinzu, wenn ich meinen Platz in der Gesellschaft nicht einnehmen kann. Denn das ist das erklärte Ziel, das einem jeder vorlebt. Das ist der Reichtum und der Luxus unserer Gesellschaft, sich selbst verwirklichen zu können. Deswegen haben wir einen Katalog mit einer Masse Ausbildungsberufen, die kein Mensch je im Kopf behalten kann. Und wer sich nicht selbst verwirklichen kann, soll sich wenigstens nützlich machen und keine Ansprüche stellen, steht im Subtext für alle die, die es sich nicht leisten können sich selbst zu verwirklichen. Oder Angst davor haben die nötigen Formulare auszufüllen und sich wieder und wieder selbst zu erklären und für sich zu bürgen.

In Interviews wurde ich in den letzen Monaten seit erscheinen meines Buches gefragt: Frau Zimmer sind Sie ein Beispiel dafür, dass die „Integration“ gelingen kann und unsere Gesellschaft alles bietet was man braucht?

Habe ich es geschafft?

Bin ich irgendwo „heraus“ gekommen? – oder ist da etwas ist an dieser Vorstellung von vornherein falsch? Die Worte „Integration“ und „Assimilation“ stehen längst nicht mehr nur im Zusammenhang mit der Debatte um Migration, Migrationshintergründe oder mehrfache Staatsbürgerschaft. Sie sind längst zu Handwerkzeugen des Arbeitsmarktes geworden. Integration – heißt arbeitsfähig und leistungsfähig sein. Wer den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft genügt ist ist leistungsfähig, vermittelbar und so weiter. Seine eigenen Autonomie, sein nicht so glattes Ich durchzuschlängeln, bedeutet meistens, dass man ein Quersteher ist, nicht alle Erwartungen erfüllt und sich schon an den Rand der Gesellschaft positioniert hat. Normen wirken unterschwellig und geben vor wer ¨normal¨ ist, wie man zu sein hat und was alles gegeben sein muss, bevor man weiterkommen kann. Besonders dort wo die Weichen für einen Lebenslauf gestellt werden. Normen wirken wenn es um die Bewertung geht: “guter Schüler“ vs. „Schlechter Schüler“. Oder wenn Erwachsene, Ausbilder, Arbeitgeber, Arbeitsvermittler, Lehrer, Institutionen und Mächtige messen wer „marktnah “ „integrationsfähig “ und motiviert ist. Und was macht der, der nicht in diese Normen passt? Einmal im Leben gestellte Weichen später umzustellen kostet es Extrakraft und Willensanstrengung, Ausdauer und eine Menge Geduld für Gespräche und Formulare.

Das Versprechen von Chancengleichheit ist noch lange nicht das gleiche wie wahre Chancengleichheit, sagt Facebook Ceo Sheril Sandberg sinngemäß. Das Versprechen der Chancengleichheit erfüllt sich genausowenig wie die Frauenquote in Deutschland von selbst.

Und die, denen das Versprechen gilt, die kostetet Träumen immer noch viel Mut, wenn keiner ihnen Hoffnung macht. Dabei ist es ist so viel leichter, für Träume auch zu kämpfen, wenn du unterwegs Menschen triffst, die dich verstehen und an dich glauben, auch dann, wenn du selbst noch zweifelst. Denn immer wenn es um die Zukunft geht, wird Herkunft plötzlich wichtig. Und auch träumen kostet manchmal Mut.

Frosch

Das fehlende Geld konnte auch zu Tränen führen. Mein erster Fasching im Kindergarten war eine Katastrophe. Ich wusste, dass die anderen Mädchen in rosa glänzenden Satinkostümen kommen würden. Und ich wollte auch eine Prinzessin sein. Doch selbst von unseren edelsten Alltagskleidungsstücken sah ich mich nicht geadelt – dann lieber gar kein Kostüm. Ich ging missmutig zum Kindergarten, sah meine Konkurrentin mit ihrer Krone auf den langen blonden Haaren und meine beste Freundin in einem perfekten Mauskostüm mit großen grauen Ohren auf dem Kopf. Eine Kindergärtnerin hat die Situation erkannt und mich im Nebenraum geschminkt, mir eine weiße Stola über die Schultern gelegt, eine Schleife ins Haar gebunden. Ich war dann irgendetwas Spanisches. So ich fähig, mich in den Kreis der tanzenden Prinzessinnen, Mäuse und Piraten einzureihen. Es gibt ein Foto von diesem Tag, auf dem ich noch mit Tränen in den Augen zwischen den anderen im Gewusel stehe, die weiße Stola über meinem rotblau gestreiften Nikkipullover.

Fasching war seitdem jedes Jahr ein Problem. Einmal rettete mich der ausgediente schwarze Cordmantel meines Vaters. Mit einem Plastikgebiss wurde er zu einem passablen Vampirkostüm.

Problematischer war das Jahr, in dem ich als Schildkröte gehen wollte. Meine Mutter lief müde hinter mir durch die Kaufhäuser. Ich kaufte grüne Leggings, ein grünes T-Shirt, Textilfarbe, bemalte es mit einem Schildkrötenpanzermuster und versuchte, ein Gebilde aus grüner Pappe zu basteln. Es sah am Ende aus wie ein großer Chinahut. Ich war also hauptsächlich grün und musste in der Schule den ganzen Tag erklären, dass mein Kostüm auf keinen Fall einen Frosch darstellen sollte.

Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein, kann viel bedeuten.

Meine Eltern sind überhaupt nicht so souverän wie diese Eltern. Aber im Gegensatz zu manchen anderen Eltern, die materiell und überhaupt mehr zu bieten zu haben, haben meine Eltern immer zu mir gehalten. Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein kann viel bedeuten. Am prägendsten sind vor allem die fehlenden Erfahrungen – wie ein Familienurlaub ist, wie gut ein Sonntagsessen schmecken kann und wie hilfreich in manchen Situationen spendable Patentanten doch sein können. Am heftigsten vermisst man jemanden an seiner Seite, der einem jenes Grundvertrauen einflößt, das andere schon mit der Muttermilch eingesogen haben. Denn auch Chancen brauchen Mut und meist auch etwa Geld. Das fehlt aber. Geigenunterricht?

Braucht eine Geige. Besuch im Technik- Museum? Kostet Eintritt. Bildung durch Reisen? Unbezahlbar. Welche Rollen dürfen arbeitslose Eltern in der Öffentlichkeit spielen? Meistens die der Verlierer, die sich nicht w ehren können, weil sie keine Macht haben und keinen Einfluss, den sie geltend machen könnten. Sie müssen sich zu allererst gegen das Vorurteil verteidigen selbst an ihrer Situation Schuld zu sein, vielleicht etwas versäumt zu haben oder aber zumindest dagegen sich im entscheidenden Augenblick falsch entschieden zu haben. Kein Wunder, wenn man da mal aggressiv wird oder hoffnungslos wenn keine Veränderung möglich scheint. Denn wieviele Vorurteile man auch aus dem Blickfeld räumen kann, es wartet immer schon das nächste. Ich weigere mich diese hier noch mal zu wiederholen. Mit wenig Geld zurechtzukommen ist die eine Sache. Aber man hat andere Erinnerungen an seine Eltern, wenn man diese von klein auf als Bittsteller erlebt, wenn man ihre Ohnmacht und Traurigkeit spüren kann, auch wenn sie es versuchen vor ihren Kindern zu verstecken. Das instabile Grundgefühl lauert immer im Hintergrund und manchmal, aber das ist nicht die Regel, bekommt es ein Gesicht.

Helden

Woher kommt der Impuls bei Kindern, sich so stark zu fühlen, dass sie glauben, ihre Eltern verteidigen zu können? Immer wenn ich dieses Gefühl der Verletztheit bei meiner Mutter spürte, habe ich die Übeltäter in meiner Phantasie fertig gemacht. Wie ein beschützender Wächter wollte ich mich vor meine Eltern stellen, so dass keiner sie traurig machen konnte.

Richtig verteidigen musste ich sie erst mit 17 im Ausland. Wenn mich Erwachsene zur Seite nahmen und mir sagten, wie reif sie mich für mein Alter hielten, habe mich geschmeichelt gefühlt.  Dann folgten ein paar Fragen zu meinem Familienhintergrund. »Wie bist du bloß so weit gekommen, bei den Eltern?« Solche Worte fühlten sich einen Moment lang an, als fiele ein warmer Sonnenstrahl auf mich, der mir in der nächsten Sekunde so zusetzte, dass mir speiübel wurde. Ich hatte mir Respekt verschafft. Gleichzeitig wusste immer, dass meine Eltern gute Menschen sind. Was ich als Lob empfand, war Verrat an ihnen: Denn sie sind grenzenlos großzügig und haben immer alles getan, so gut sie es eben konnten.

Das wichtigste Kapital in meinem Leben habe ich von ihnen selbst bekommen: Offenheit und Ehrlichkeit, Verständnis und Herzlichkeit und die Fähigkeit, Ängste überwinden zu können und Verantwortung für meine Taten zu übernehmen. Meiner Meinung nach sind das die wichtigsten Werte im Leben überhaupt. Ich habe, was ich geschafft habe, nicht trotz, sondern wegen ihnen geschafft. Sie haben den Mut gehabt, mir Vorbilder zu geben, die ziemlich weit entfernt waren von unserer Lebensrealität. Sie heißen Martin Luther King, Judith Butler, Nelson Mandela, Louis Armstrong, George Tabori, Barbara Streisand, Doris Lessing – eine ziemlich krause Mischung. Doch haben alle eins gemeinsam: Sie sind alle dafür bekannt, dass sie nach ihrem eigenen Verstand gehandelt haben und nicht nur entsprechend der gesellschaftlichen Konventionen. Und dafür werde ich auch meine Eltern immer verteidigen.

 

Autos machen mich sentimental

Tübingen 2012: Ich warte auf eine Mitfahrgelegenheit nach Berlin. Ein schwarzer Mercedes hält vor dem Tübinger Bahnhof. »Hattest du Sorge, dass wir nicht kommen?«, fragt mich der Mann, drahtig, dynamisch, grüne Fleece-Jacke, silberne Strähnen. »Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich schon jemanden geschickt.« Bevor ich antworten kann, hat er meinen Rucksack schon im Kofferraum verstaut. Ich setze mich auf die hellblaue Decke, die auf dem Rücksitz ausgebreitet ist. Neben den Picknickkorb. »Da sind zwei Thermoskannen, eine ist für Sie«. Seine Frau dreht sich zu mir um. Sie hat mittelbraune Haare, kinnlang, die Augen ein bisschen geschminkt. Eine, die Laugenbrötchen und Kaffee um sieben Uhr morgens für sich, ihren Mann und eine fremde Mitfahrerin vorbereitet hat.

Die beiden sind auf dem Weg zu ihrer Tochter, die 700 Kilometer von Tübingen in einer Kleinstadt oberhalb Berlins gerade ein Praktikum macht. Die Strecke werden sie retour in zwei Tagen zurücklegen. Ganz schön anstrengend, denke ich, und als ob sie meine Gedanken gehört hätte, sagt die Frau fröhlich: »Das ist nur halb so weit wie nach Istanbul.« Ihr Mann stammt von dort. Sie fahren sehr organisiert. Es ist die Fahrt mit den meisten Pausen und doch eine der schnellsten, die ich nach Berlin mitgefahren bin, sicher die kurzweiligste. Ich beobachte die beiden interessiert. Ich vergleiche sie mit meinen Eltern.

Ich ahne, dass sie sich im Studium kennengelernt haben. Bei den letzen Zügen einer Zigarette erzählt er mir, wie er als Student in Tübingen Schnee geschippt hat. Jeder hat seins: Er trainiert eine Fußballmannschaft, sie ist Lehrerin und organisiert offensichtlich mit großer Begeisterung Ausflüge für ihre Klassen. So stelle ich mir richtige Eltern vor, den Gedanken kann ich mir nicht verkneifen. Sie fahren ein großes Auto. Sie machen Urlaub. Sie bringen ihrer Tochter mal eben zwei Kisten mit Türkischbüchern und ein paar Kleinigkeiten vorbei. Zwei Tage Urlaub, mehr Zeit kann keiner von beiden freinehmen. Aber sie schmiert die Brötchen und beide fahren einfach los. Falls ihre Tochter da oben bleiben würde, dann bräuchte sie ein Auto. »Man hat ihr einen Ausbildungsplatz angeboten«, erzählt mir die stolze Mutter. Die Tochter macht gerade ihren Führerschein. »Sie könnte sich ein billiges Auto kaufen«, sagt die Mutter. Oder die Eltern würden ihr eins besorgen, da bin ich ganz sicher.

Meine Eltern könnten mir keine Kisten bringen, mich nicht beim Autokauf beraten. Meine Eltern würden mich vermutlich auch nicht besuchen kommen, schon gar nicht an einem Wochenende so viele Kilometer hin und zurück fahren. Ich schaue durchs Autofenster auf die Landschaft. Wegen der Nebelschwaden sieht man fast nichts. Ich kann nicht schlafen, der Radiosender ist laut. SWR mit Pop und Hits. Die Lehrerin singt einen Refrain mit. Ich mag sie dafür. Ich denke zum ersten Mal daran, dass meine Eltern mittlerweile zehn Jahre älter sind als diese beiden.

Autos machen mich sentimental. Autos haben mich immer an Orte gebracht, an die ich ohne Auto nicht gekommen wäre oder an die meine Mutter nicht mit mir gefahren wäre. Es ist Luxus, von der Haustür direkt ans Ziel zu kommen, ohne die U-Bahn benutzen oder die Schuhe nach der Länge des Weges und den Pflastersteinen zwischen Ziel und Bahnhof wählen zu müssen. Als Kind wollte ich nie ankommen und nie aussteigen müssen. Einige Male haben uns Freunde abends mit ihrem Auto nach Hause gefahren. Ich erinnere mich an die Lichter. Ich wollte immer einschlafen, damit man mich nicht aus dem Auto holen konnte, wenn wir da waren. Aber ich konnte nie schlafen, weil ich nichts von der Autofahrt verpassen wollte. Also habe ich am Ende immer so getan, als würde ich schlafen. Ich musste immer aussteigen.

Im Ausland habe ich, als ich siebzehn war, heimlich im Auto geweint. Ein Auto ist gerade groß genug für eine ganze Familie. Im Auto entsteht eine enge Gemeinschaft Solange ich im Auto mit einer Familie saß, war ich plötzlich Teil von etwas, das mir eigentlich fremd war. Etwas, das ich vermisst habe. Deswegen machte es mich traurig. Ich fühlte mich glücklich und fehl am Platz zugleich. Ich habe in meinem Leben mit vielen Familien in ihren Autos gesessen. Solange ich da saß, gehörte ich dazu. Menschen, die ein Autohaben, strahlen Souveränität aus. Sie holen ab, bringen nach Hause, sie sind Möglichmacher. Sie riechen anders. Nach Polstersitzen, Wunderbäumen und Autoradios. Sie haben dicke schwarze Schlüssel. Sie sind unabhängig. Sie brauchen niemanden bitten, sie können ihre rückenkranke Mutter einfach einpacken und mitnehmen. Sie können ein Stück »Zuhause« transportieren, große schwere Dinge mitnehmen und sie können viel einkaufen. Autos sind Souveränität. Ein schwarzer Mercedes, wie der in dem ich gerade sitze, ist sehr souverän.

Normalität, was heißt das schon?

Meine Mutter hat gesagt: »Ich habe das Leben so gerne rechtschaffen leben wollen. Und in allem richtig handeln.« Und schon die großen Tragödien unserer Literaturgeschichte handeln von Menschen, die daran gescheitert sind. Oft waren sie auch arm: Romeo und Julia vom Dorfe, Raskolnikov aus Dostojewskis Schuld und Sühne und viele mehr. Armut hat viele Dimensionen. Vier halte ich für besonders relevant: die finanzielle, die soziale und Bildung. Eine weitere ist die Herkunft, o der der Status der Herkunftsfamilie – nicht zu vergessen der Aufenthaltsstatus. Sollte ich mich selbst beschreiben, dann sind die statistisch für meine Herkunft relevanten Kategorien: Ich bin Scheidungskind, aufgewachsen bei einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter, mit ,daraus selbstverständlich folgend, wenig Geld und ebenfalls daraus folgend – wobei es nicht selbstverständlich, aber auch nicht untypisch ist: einem geringen sozialen Umfeld und ohne Leitfigur, die mich auf die Konkurrenzkämpfe und Dos and Dont’s, die für den Platzkampf in dieser Gesellschaft am wichtigsten sind, vorbereitet hat. Dies sind die sogenannten Risikofaktoren. Ebenfalls typisch, aber nicht ganz so gewöhnlich in diesem Zusammenhang: Meine Mutter hat statistisch gesehen einen mittleren Bildungsabschluss und eine abgeschlossene Ausbildung als Krankenschwester. Ein Beruf, den sie nach ein paar Jahren jedoch – und da sind wir wieder bei den typischen Risikofaktoren – nicht mehr ausüben konnte – zum einen aus persönlichen Gründen, zum anderen aus strukturellen Gründen, da auch in diesem Beruf damals keine Teilzeitstellen für alleinerziehende Mütter vorgesehen waren. Ein Dilemma, das auf dem Arbeitsmartkplatz immer noch ungelöst ist.

Alles weitere Wissen und die Interessen meiner Mutter – Opern und anspruchsvolle Weltliteratur, philosophische, moralische und religiöse Denker, die sie gelesen hat und die man auf das Niveau der höheren Bildung einstufen müsste – sind nicht zertifiziert, damit nicht messbar und waren somit auch niemals bei der Arbeitssuche verwertbar. Somit haben wir ein typisches Szenario, dass strukturell fast zwanghaft in Langzeitarbeitslosigkeit münden wird, wenn keine Kompensation der vier Diemensionen mömglich ist. Im Buch klingt es so:

Die Armutsdimension, die in unserem speziellen Fall am schwersten wiegt, lag im Sozialen. Abgesehen davon, dass wir viele kulturelle Veranstaltungen nicht besuchen konnten, dass wir nie ins Restaurant gegangen sind, nicht zum Friseur, nicht Kaffeetrinken und unterwegs kostenpflichtige Toiletten vermieden haben, hatten wir keine Bekannten, kein soziales Umfeld, das hilfreiche Kontakte zu anderen geboten hätte. Ich habe manchmal Zwieback mit Senf gegessen, weil das am ehesten nach Burger schmeckte, aber ich bin nie hungrig schlafen gegangen. Wir haben in einer ordentlichen Wohnung gewohnt, wir hatten immer warmes Wasser und Strom. Wir hätten uns aber nie eine dieser Wasserflaschen für 2.40 Eur am Bahnhof geleistet. Und einen Kuchen oder Cappuccino hätten wir nur gekauft, wenn es ei ne besondere Gelegenheit gewesen wäre und die hätten sehr gut schmecken müssen um ihre 3 Euro wert zu sein. Wir brauchten immer einen guten Grund, um uns etwas außer der Reihe zu leisten. Unsere Geschenke sind in Servietten eingewickelt und mit Paketband zugeschnürt und wir finden das schön. Wo andere Poster in Bilderrahmen hängen haben, werden bei uns die Bilder mit Setcknadeln in die Tapete gepikst und meine Mutter hat unsere ersten Gardinen aus großen Luftmaschen gehäkelt. Und wenn wir jemanden besonders schätzten, tischen wir kein Sonntagsgeschirr auf, sondern essen mit ihm oder ihr aus dem Topf. Wir lebten wie in einer Luftblase in unserer eigenen Welt, mit ihren eigenen Regeln, durch eine gläserne Membran getrennt von dem Alltag mit Abendbrot und Spreewaldgurken, der in den meisten Familien ¨Normalität¨ heißt. Normalität, was ist das? Sie beginnt immer mit einem Vergleich zwischen mir und den Anderen.