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3,4 Prozent: Reutlingen

Theodor-Heuss-Schule

Lesung am 07.10.2016

Lange ist es her, seitdem ich eine Schule betreten habe. Als ich im ersten Stock der Theodor-Heuss- Schule vor dem Zimmer der Direktorin Frau Gerstlauer ankomme, laufe ich durch eine Schlange von jungen Flüchtlingen, die darauf warten, dass ihr Name aufgerufen wird. Einer nach dem anderen dürfen sie dann an einen kleinen Tisch vortreten und bei einer zierlichen blonden Lehrerin etwas unterschreiben. Es dauert eine ganze Weile, bis alle durch sind. Fahrgeldausgabe für die VABO-Klassen (steht für Vorbereitungsjahr Arbeit und Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen). Was für ein bürokratischer Mehraufwand für eine Schule. Ich wette, die Lehrerin könnte sich auch Besseres vorstellen als jeden Monat wieder das Fahrgeld abzuzählen, wieder und wieder zu kontrollieren, wer wo gemeldet ist und welche Bescheide noch aktuell sind.

Im Büro der Direktorin Frau Gerstlauer erspähe ich mein Buch und das von Marco Mauer »Du bleibst was du bist«. Ich werde hier also in guter Gesellschaft gelesen. Wir sprechen über die Schüler. Allgemein wundert sich die Direktorin, dass die Generation, die heute die Schulbank drückt, so viel unselbständiger ist, als ihre Vorgänger. Selbstorganisation fehle Vielen. Haben alle hier Helikoptereltern? Ein Beispiel: Viele bringen kein Pausenbrot mit. Wir sprechen über 16- und 17-Jährige auf dem Weg zum Abitur, nicht über Grundschüler aus prekären Vorort-Familien. Spukt hier wieder Generation Y? Oder Generation »Ich geh’ kurz zum Bäcker«? Bald schwenkt das Gespräch wieder auf die Flüchtlinge, auf das Fahrgeld und die jungen syrischen Männer, die bis vor Kurzem in der Turnhalle nebenan hausten. Die Schule hatte damit offensichtlich kein Problem. Die Schüler haben sich mit Projekten für die jungen Männer engagiert. Das hat die Direktorin sehr gerührt. Da waren die Schüler dann doch aktiv und haben Eigeninitiative ergriffen. Auch Frau Gerstlauer engagiert sich, zum einen natürlich für ihre Schüler, wenn Fragen mit anderen Behörden zu klären sind, zum anderen privat als Ehrenamtliche. Ihre Lehrkraft ebenfalls. Und dann können sich beide die Jobcenterschelte doch nicht verkneifen. Musste ja kommen. Und ich bin jetzt der nächste Adressat, denn ich bin ja auch irgendwie vom Jobcenter, obwohl heute nicht als dessen Repräsentant hier. Ich rutsche in eine Zwischenrolle, ich höre zu: Manche Infos bekomme man nur zufällig und inoffiziell. Einmal heißt es, ein Formular gäbe es an der Theke, an der Theke heißt es, das stimme nicht, man müsse einen Termin ausmachen. Lange Wartezeiten und kein Ergebnis, weil man den Zuständigen nicht ausmachen konnte. Manchmal fühlten sich die Flüchtlinge unfreundlich behandelt. Dann wieder seien viele Mitarbeiter sehr freundlich und hilfsbereit, aber Flüchtlinge ohne Begleitung würden manchmal weggeschickt. Der alte Gegensatz gilt: Individuum gegen Behörde, da kommt es zu Reibereien. An allen Schnittstellen trifft man auf Menschen mit unterschiedlichen Vorgaben und Zielen. Lehrer und Schuldirektorinnen sind ja auch nicht gerade dafür bekannt, sich gern belehren oder unverrichteter Dinge wegschicken zu lassen. Gut für ihre Schützlinge. Aber ich bin heute ja wegen eines anderen Themas hier.

Auf dem Weg zu meiner Klasse werde ich doch nervös. Ich halte die Lidltüte mit meinen Requisiten fest in der Hand. Vor Schulklassen sprechen ist so eine Sache. Bin ich gleich cool genug, oder werden sie mich fertig machen? 25 Jugendliche, die der Zukunft trotzig entgegen sehen und gelangweilt sind von den sich immer wiederholenden Ermahnungen der Erwachsenen. Können die mit meinem Text was anfangen?

Jugendlichen sieht man nicht an, was sie denken. Sie gucken prüfend. Lächeln ist die beste Verteidigung. Und da, nach dem sie mich ein paar lange Sekunden haben zappeln lassen, ernte ich auch vereinzelt ein Lächeln zurück, dann folgen immer mehr und ich bin beruhigt. Heute werde ich mich doch nicht blamieren müssen.
Ich selbst bin so unendlich neugierig auf diese Schüler. Wie reflektieren sie sich? Was denken sie, was ist ihnen wichtig in dieser Lebensphase? Wir sind hier auf der kaufmännischen Berufsschule. Die meisten haben Eltern sichere Berufe, wenige der Eltern waren mal arbeitslos. Die meisten Schüler wohnen in einem Haus, die meisten bekommen den Führerschein zumindest zum Großteil finanziert. Die Wenigsten haben hier mit den sogenannten Risikofaktoren Migrationshintergrund, Arbeitslosigkeit der Eltern, prekäre finanzielle Lage, unzureichendes soziales Netzwerk, alleinerziehende Eltern oder schlechte Bildung zu kämpfen. Wir sind ja auch in Reutlingen, der Stadt der Millionäre. Arbeitslosenquote im Oktober 2016: 3,4 Prozent.

Haben die Schüler trotzdem Ängste? Machen sie sich Sorgen über ihre Zukunft? Tun sie. Sie fragen sich, ob sie die richtige Berufswahl getroffen haben, die Richtung ist den meisten klar, welcher Beruf genau es werden soll jedoch noch nicht. Ob sie ihren Lebensstandard halten können werden, fragen sich einige. Werden sie ihren Kindern die gleiche Sicherheit geben können, in der sie aufgewachsen sind? Bei welchem Beruf hat man heute schon eine Garantie? Was macht man, wenn man die falsche Entscheidung getroffen hat? Gibt es überhaupt eine falsche, wenn man so jung ist? Diese Fragen beschäftigen sie tatsächlich.

Mein Rat: Hauptsache man trifft eine Entscheidung.
Ihre Lehrerin bestätigt mich. Sie ist auch über Umwege zu ihrem Beruf gekommen, in dem sie nun zufrieden und angekommen scheint. Auch sie hatte das Glück im richtigen Moment Unterstützer zur Seite zu haben. Eine Fähigkeit war auch auf ihrem Weg besonders wichtig, die wir am Ende der Stunde den Schülern gemeinsam ans Herz legen: Durchhaltevermögen.

Liebe Schüler, es war schön Euch kurz kennengelernt zu haben. Liebe Frau Gerstlauer und Frau Riepe, vielen Dank für die Einladung und die schöne Gelegenheit. Liebe Frau Gohl vom Diakonieverband Reutlingen: Vielen Dank für’s Einfädeln.
Published inRückblicke

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