Fachklinik Königshof
Lesung am 15.09.2016
In diesem Jahr bin ich das zweite Mal in Krefeld. Letztes Mal im April wurde ich direkt abgeholt und habe die Stadt nur punktuell wahrgenommen: die Straße, in der mein kleines familiengeführtes Hotel liegt, das Restaurant am alten Bahnhof, wo ich mit Vertretern des Sozialwerks Krefelder Christen e. V, des Arbeitslosenzentrums, des Caritasverbandes und des Katholikenrats zu Mittag essen durfte, und schließlich die Mediothek, in der ich gelesen habe. Von der Mediothek schwärme ich heute noch, eine Bibliothek mit Sitzecke, Veranstaltungsraum, Café, Platz zum Lernen und Sich-austauschen – ein Treffpunkt mit Büchern, Videos, Spielen. Jemand lacht, als ich das erzähle, die Mediothek sei wohl auch das einzige moderne Vorzeigeobjekt der Stadt Krefeld, und das müsse so einiges an verkommenem Stadtbild ausgleichen.
Heute werde ich nicht abgeholt. Richtig in die Innenstadt schaffe ich es trotzdem wieder nicht. Wenn man in Krefeld am Bahnhof aussteigt und ein paar Meter Richtung Innenstadt geht, erhält man tatsächlich keinen Anhaltspunkt dafür, dass Krefeld, die einstige Seidenstadt, vielleicht irgendwo doch noch ein schönes Stadtgesicht versteckt. So weit ich komme, ist es hässlich, staubig, Leerstand, Baustellen, Billigläden. Ich habe gehört, dass es weiter hinten noch ein schönes altes Stadtzentrum gibt. Aber ich schaffe es nur bis zu den ersten Metern der Fußgängerzone zu Tante Emma. Tante Emma ist heute ein Eckimbiss mit Gestalten, die man in manchen Kreisen als subkulturell bezeichnen würde. Aber Tante Emma bietet eine große Portion Pommes an, die genau richtig knusprig frittiert sind. Vielleicht hat der Imbiss hier gerade erst aufgemacht, denn die beiden Mitarbeiter sind überaus höflich und zwei sind wohl in so einer müden Mittagszeit eigentlich zu viel hinterm Tresen. Hinter mir saugt ein Ehepaar, das die mittleren Jahre hinter sich gebracht hat, an Cola und Fanta und sinniert über Hausschuhe für vier Euro bei Woolworth. Rechts von mir sitzt ein junger Mann mit Boxerhündchen und Mama. »Mama, wenn ich Geld hätte« , schimpft er, »dann würde ich so was von Ausreisen! Nach Canada oder so. Was ist das für eine Welt hier. Guck dir die Gesichter doch mal an. Keiner lächelt.« »Rede nicht so laut«, sagt seine Mutter. Das dämpft seine Stimme nicht, er doziert weiter darüber, dass Alkohol viel gefährlicher ist als mal n Joint und was sonst noch nicht tragbar ist. Eine Freundin von Mama setzt sich an den Tisch. Vor mir zündet ein dürrer, verschwitzter Arbeiter in Latzhose noch eine Zigarette zu seinem Kaffee an. Wir alle gucken auf die Menschen, die auf der Fußgängerzone hin und her eilen. Ich checke meine Statistik: Im Juni 2016 hatte Krefeld 233 034 Einwohner, die häufigsten Vornamen sind Maria und Michael und die Arbeitslosenquote vom August 2016 beträgt 8,5 Prozent, im April lag sie noch bei 10,8 Prozent.
»Mama, wenn ich Geld hätte« , schimpft ein junger Mann, »dann würde ich so was von ausreisen!«
Auf dem Weg zur Klinik Königshof, meinem heutigen Leseort, wird das Stadtbild nicht besser. Staubgraue Fassaden an stark befahrenen Straßen, Baustellen, Imbisse, Spielotheken. Nichtorte. Es folgen ein paar ruhige Straßen, eine große unübersichtliche Kreuzung und an der Auffahrt zur Klinik eine Brachfläche mit Schild: Hier entstehen Behandlungsplätze für 80 neue Patienten.
Nach 200 Metern, hinter der Schranke und dem kleinen Pförtnerhäuschen, fängt das Erholungsgebiet an. Krankenhausparkflair mit kleinem Kaffeehäuschen und einem schönen Backsteingebäude. Die Versuchung ist groß, ich könnte mich für ein paar Tage einweisen lassen, mich mal nur mit mir selbst beschäftigen und im Park spazieren gehen. Aber nein, ein Nachmittag muss reichen. Auch wäre ich kein Privatpatient und das hieße, dass ich mein Zimmer mit jemandem teilen müsste. Das würde den Erholungsfaktor erheblich senken. Dann will ich vielleicht lieber doch nicht hier bleiben. In den Fachkliniken Königshof werden vor allem psychisch Kranke behandelt; auch Suchtkranke und Altersdemenz. Dann gibt es eine kleine Abteilung für Kardiologie. Die Klinik Königshof öffnet gerne ihre Türen für Besucher von außerhalb. Sie bietet regelmäßig kulturelle Veranstaltungen an, damit die Klinik als Ort nicht von der Welt abgeschnitten ist. Nicht wie früher, als man noch versucht hat Kranke zu verstecken, weit weg vom Zentrum, damit der Rest der Gesellschaft nicht merkte, dass es sie gab. Was mich heute wohl für ein Publikum erwartet?
Viele sind es leider nicht. Ein paar Patienten, Bürgermeisterin Gisela Klär und zwei Zuhörer von außerhalb, sowie der leitende Facharzt der Klinik, die Seelsorgerin und die Sekretärin der Geschäftsführung. Nun ja, dann gibt es hinterher kein Gedränge am Buffet.
»Sie haben mir Resilienz und geistige Fitheit voraus. Ich bin ja nicht nur materiell eingeschränkt, sondern auch psychisch krank«, sagt ein Besucher nach der Lesung. Ich weiß nicht so ganz was ich darauf antworten soll, ich kann seine geistige Fitheit ja nicht beurteilen. Also sage ich, dass ich sowohl Resilienz als auch geistige Fitheit jeden Tag neu aktivieren muss, was manchmal gar nicht so einfach ist. Er sagt weiterhin, dass Mobilität ihm wichtig ist. Wenn er Auto fährt, was er immer noch kann, ob wohl er psychisch krank ist, dann fühlt er sich als Teilnehmer in der Gesellschaft, indem er am Straßenverkehr teilnimmt. Mein Vater hätte ihm hier sofort zugestimmt. Er kann sich auch sehr fachlich zu verschiedenen Zusammenhängen äußern, so dass ihn die Seelsorgerin fragt, ob er nicht schon an einigen Veranstaltungen hier teilgenommen hat. Er sagt zunächst, er würde sich viel selbst aneignen, räumt beim zweiten Nachfragen aber ein, dass er hier schon die eine oder andere Veranstaltung besucht hat. Später erfahre ich, dass er an fast jeder Veranstaltung und jedem Buffet in der Klinik teilnimmt.
Ich ertappe mich dabei, dass ich mich bei jedem Gespräch nach dieser Lesung frage: Patienten oder Mitarbeiter? Ich würde das gerne abstellen, aber es geht nicht. Und mit dieser Erkenntnis über mich selbst winde ich mich aus einem nicht enden wollenden Gespräch, unter dem Vorwand, dass ich nun meine Requisiten zusammen packen muss.
Auf der Fahrt zum Hotel unterhalte ich mich mit dem Chefarzt Jan Dreher über die Schnittstellen von Psychiatrie und Arbeitslosigkeit. Ich sehe oft Menschen in ihrer Situation verharren. Er sieht Menschen gesund werden. Das gibt mir Hoffnung. Ich erfahre außerdem, dass er einen Blog führt, und stöbere noch vor dem Einschlafen in den Beiträgen. Sie sind nicht nur fachlich, sondern auch für Laien leicht zugänglich, kurz und knapp und unterhaltsam. Hier ist jemand wirklich begeistert von seinem Fach. Außerdem finde ich den Titel psychiatrietogo genial und notiere mir noch ein paar Fragen, zu denen ich ihn unbedingt um eine Antwort bitten muss.
Diese Fragen finden Sie hier.
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